otto2a.jpg Theologe

"Ein begriffener Gott ist kein Gott" (Tersteegen)
Das Andreanum hat viele Geistliche hervorgebracht. Der berühmteste Theologe ist Rudolf Otto. Kein Lexikon, das nicht seinen Namen verzeichnet. So lautet der Eintrag in "Meyers Grosses Taschenlexikon": "Rudolf Otto, evangelischer Theologe, geboren in Peine 25.9.1869, gestorben Marburg 7.3.1937; Professor in Göttingen, Breslau und Marburg; erlangte Bedeutung besonders durch sein Buch ‚Das Heilige‘ (1917), in dem er den Begriff des Numinosen (Numen) für das vom Menschen als heilig Erfahrene in die Religionswissenschaft einführte." Rudolfs Ottos Buch "Das Heilige" mit dem Untertitel "Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen" wurde sogleich nach Erscheinen mit Friedrich Schleiermachers "Reden über die Religion" verglichen. Bis heute ist es immer wieder aufgelegt worden. Kein Werk der anderen großen evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts, kein Buch von Karl Barth, Rudolf Bultmann, Paul Tillich oder Dietrich Bonhoeffer hat so hohe Auflagen und eine so breite Aufnahme gefunden wie "Das Heilige". Deshalb nennt es Friedrich Wilhelm Kantzenbach den "theologischen Bestseller des 20. Jahrhunderts".

Der Religionsforscher Mircea Eliade schreibt in seinem Buch "Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen" (1957) über Ottos Klassiker: Den "Erfolg verdankte das Werk der neuen und originellen Perspektive seines Verfassers, der sich hier nicht mit den Begriffen Gott und Religion beschäftigte, sondern die verschiedendsten Formen der religiösen Erfahrung analysierte. (...) Er ließ das rationale und spekulative Element der Religion beiseite und befasste sich in erster Linie mit ihrer irrationalen Seite. Rudolf Otto hatte Luther gelesen und erfasst, was für den Gläubigen der ‚lebendige Gott‘ ist: er ist nicht der Gott der Philosophen, der Gott eines Erasmus etwa, er ist keine Idee, kein abstrakter Begriff, keine moralische Allegorie". Karl Louis Rudolf Otto war das vorletzte von 13 Geschwistern. Sein Vater Wilhelm Otto besaß in Peine und Hildesheim Malzfabriken. Rudolf Otto besuchte zuerst eine Schule in Peine. "Im Lateinischen und Griechischen hatte ich privaten Unterricht erhalten, so daß ich, Ostern 1882, in die Gymnasial-Untertertia des Andreanums zu Hildesheim aufgenommen werden konnte", erinnert sich Otto. "Schon während meiner Peiner Schulzeit war in mir der Wunsch erwacht, Pastor zu werden. Und früh war der Wunsch zum festen Entschlusse gereift. Von meinem katholischen Spielkameraden ließ ich mir über seine Heiligen erzählen und war sehr glücklich, einmal mit zur Messe genommen zu werden." Mit dem Schulwechsel ans Andreanum erfolgte zugleich ein Umzug der Familie von Peine nach Hildesheim. Der Vater erkrankte schwer und starb bald. Im Rückblick auf seine Schulzeit am Andreanum schreibt Otto am 29. Dezember 1891 in seinem für die Zulassung zum ersten theologischen Examen verfassten Lebenslauf: "Die Schulzeit war nicht eine so erfreuliche, wie sie sonst zu sein schien. Ich hatte wenige Freunde und war meist auf mich angewiesen. Das ganze Treiben der Übrigen blieb mir fremd und gleichgültig. Bücher waren meine besten Kameraden. Später besonders die englische Literatur. Die Anforderungen der Schule machten mir wenig Mühe: leider, denn dadurch kam es, daß ich bis heute mich nicht an strenges methodisches Arbeiten gewöhnte." Schulleiter des Andreanums war damals Dr. Max Gottfried Hoche (*18. Dezember 1840 in Zeitz). Direktor Hoche besaß die Lehrbefähigung in den Fächern Griechisch, Latein, Deutsch, Mathematik, Physik, Geschichte und Französisch. Von Michaelis 1873 bis zum 13. Oktober 1896 leitete er das Andreanum. Wegen eines Halsleidens und allgemeiner Erschöpfung musste er vorzeitig in Pension gehen. Rudolf Ottos Lieblingsfächer waren deutscher und lateinischer Aufsatz und Physik. "Der Religionsunterricht war fast in allen Klassen so traurig, daß er unmöglich Lieblingsfach werden konnte. Doch blieb mir die Sache immer lieb und wert und wurde es noch mehr durch den Gegensatz, den ich früh genug erlebt hatte: Noch Kinder, stritten wir begeistert und erbittert genug über Gottessohnschaft und Schöpfungsbericht, über Darwinismus und Urzeugung, und ich wartete sehnlich auf die Zeit, wo ich alles diese Probleme gründlich studieren könnte." Otto war vom Geheimnisvollen fasziniert. In der Schule erlebte er jedoch, wie sein Religionslehrer die Welt des Wunderbaren entzauberte. Das Zeitalter der Entmythologisierung hatte begonnen. Ottos Religionslehrer war Professor Dr. Hoppe. Seit dem 1.April 1876 gehörte er dem Kollegium an. Er besaß die Lehrbefähigung für Religion, Latein, Deutsch und Hebräisch. Auch Oberlehrer Hoppe musste aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig in den Ruhestand gehen. Ottos Klassenlehrer in der Oberprima war Oberlehrer Laudahn. Er unterrichtete die Fächer Latein und Griechisch. Der Lehrplan im Fach "Religion" war im Wesentlichen von drei Inhalten bestimmt: Bibel, Katechismus und Kirchenlieder. In der Unterprima standen die Lektüre der Confessio Augustana und des Matthäusevangeliums im griechischen Urtext auf dem Lehrplan, in der Oberprima das Johannesevangelium im Urtext. Fragen des systematischen Theologie lagen noch ebenso wenig im Blickfeld der Lehrplanmacher wie die Beschäftigung mit den Weltreligionen. Das Alte Testament und damit das Judentum wurden aus der Perspektive des Neuen Testamentes gelesen. So lautete das Thema der Untertertia (9. Klasse) "Geschichte des Reiches Gottes im alten Bunde". Rudolf Otto legte die Abiturprüfung Ostern 1888 ab. Damals besuchten 422 evangelische Schüler, ein Katholik und zwölf Juden das Andreanum. 244 Schüler kamen aus Hildesheim, 180 aus dem Umland, elf aus dem Ausland. Sie wohnten in Schülerpensionaten. Ernst Jünger hat die Atmosphäre dieser Lebenswelt in seinem Schülerroman "Die Zwille" beschrieben. Die Abiturientia 1888 zählte 20 Schüler. Von ihnen gaben neun den Berufswunsch "Theologie" an. Die Abiturfeierlichkeiten des Jahrganges 1888 waren vom Tod des Kaisers Wilhelm I. (9. März 1888) überschattet. Die Entlassungsfeier am 22. März, dem Kaisergeburtstag, war zugleich eine Gedächtnisfeier für Wilhelm I. Die Abiturientia stimmte "Bis hierher hat mich Gott gebracht" und "Lobe den Herren" an, der Chor sang "Gott sei des Kaisers Schutz". Anschließend wurde der Schutzengelpsalm 91 zitiert. Der Primaner Ernst Hahne, Sohn eines Mühlenbesitzers aus Osterwald, hielt den lateinischen Festvortrag "Antigona, insigne pietatis exemplum". Rudolf Ottos letztes Schuljahr auf dem Andreanum war bereits zu Beginn überschattet worden. Die Sommerferien mussten um eine Woche verlängert werden, weil drei Lehrer vom 1. Juni bis zum 1. August zum Militärdienst einberufen und zugleich zwei Lehrer für längere Zeit krankgeschrieben worden waren. Beim traditionellen Schulausflug am Sedantag, wurde ein Schüler durch herabstürzendes Gestein beim Wasserfall zu Romkerhall/Harz lebensgefährlich verletzt. Auch außerhalb der Schulgemeinschaft hat das Jahr 1888 Gedächtnisspuren hinterlassen: Nietzsche veröffentlichte seine hasserfüllte Polemik gegen das Christentum unter dem Titel "Der Antichrist", Jack the Ripper zog mordend durch London, Vincent van Gogh schnitt sich ein Ohr ab, Theodor Storm veröffentlichte den "Schimmelreiter" und Fontane "Irrungen, Wirrungen", Rodin vollendete "Die Bürger von Calais" und Grieg die "Peer-Gynt-Suite", Fridjof Nansen durchquerte Südgrönland auf Skiern, Heinrich Hertz gelang der Nachweis und die Erzeugung elektromagnetischer Wellen, Kaiser Wilhelms I. Nachfolger starb bereits knapp zwei Monate später am 15. Juni: so ist das Jahr 1888 als "Dreikaiserjahr" in die deutsche Geschichte eingegangen.  Rudolf Otto studierte in Erlangen und Göttingen. Thema seiner Dissertation (1898) war Luthers Verständnis vom Heiligen Geist. Durch das Studium des Reformators erschließt sich Otto die Numinose Seite der Religion. Religion, so lehrt Otto, geht nicht in ihren rationalen Aussagen auf. Gott ist mehr als Geist, Vernunft, guter Wille und Bewusstheit. Das Heilige hat zwei Seiten: eine rationale und sittliche und eine irrationale Seite. Otto interessiert sich für die irrationale Seite des Heiligen. Er nennt sie das Numinose. Dieses entzieht sich der begrifflichen Erfassung. Es ist unaussprechlich (arreton) und unsagbar (ineffabile). Das Numinose bezeichnet nach Rudolf Otto das Innerste der Religionen, ihren Wesenskern. Das Irrationale begegnet als eine Dimension der Wirklichkeit. Es "zuckt und leuchtet immer mit". Theologie ist daher nicht allein eine Sache des Wortes, des Logos. Auch vermögen Begriffe allein das Wesen Gottes nicht zu erfassen. Religiöse Sprache ist notwendig symbolische Sprache. Das Wesen des Erfahrung des Heiligen wird im Symbol sagbar. Eine religiöse Sprachlehre ist eine Sagbarmachung des Unsagbaren. Durch "symbolisierende Ausdrücke" kommt das Heilige angemessen zur Sprache. Ihrem Aussagegehalt nachzuspüren, ihre Bedeutungsschichten freizulegen, zu hören, was in ihnen angedeutet ist, gehört zu den zentralen Aufgaben der Arbeit an Bildern und Texten. Religionsunterricht im Sinne Ottos thematisiert folglich religiöse Erfahrungen. Diese sind "nicht im strengen Sinne lehrbar, sondern nur anregbar, erweckbar – wie alles, was ‚aus dem Geiste‘ kommt." Zentrale didaktische Vermittlungskategorien sind nach Otto: Kontraste, Analogien, Vergleiche, Erörterung, Symbole. Eine der zentralen anthropologischen Urerfahrungen ist das "Kreaturgefühl". Damit wird ein "frommer Moment" feiernder Andacht, der Ergriffenheit, Dankbarkeit, des Vertrauens, der Liebe, der Zuversicht, der Demut, der Ergebenheit, der Abhängigkeit bezeichnet. "Das Gefühl der Kreatur, die in ihrem eigenen Nichts versinkt und vergeht gegenüber dem, was über alle Kreatur ist."" Otto nennt als Beispiel Gen 18.27; Hi 9.34; 13.21. Das Kreaturgefühl ist eine Reaktion auf die Erfahrung des Heiligen als einem Überlegenen (majestas). Ihm entspricht im weltlichen Bereich der "epiphane
Moment". Im Religionsunterricht kann das Heilige also "durch Einfühlen, durch Mit- und Nachgefühl bei anderen um uns her, in starken Ausbrüchen des Frommseins und seinen Stimmungsäußerungen, in der Feierlichkeit und Gestimmtheit von Riten und Kulten, in dem, was um religiöse Denkmäler, Bauten, Tempel und Kirchen wittert und webt" erschlossen werden. Sie regen an, bringen zum Ausdruck, helfen zu einem Verständnis, schaffen Entsprechungen verwandter Gefühle. Die Erfahrung des Heiligen (Numinosen) beschreibt Otto als Begegnung mit dem "mysterium tremendum et fascinosum". Das Heilige ist schlechthinnige Unnahbarkeit, schauervolles und zugleich faszinierendes Geheimnis. Das mysterium tremendum ist die Ursache des Kreaturgefühls. "tremor" bedeutet "heiliger Schauer". Das "tremendum" meint Erschaudern, heiliger Schauer, religiöse Scheu, Ehrfurcht, Demut wie es in Gerhrad Tersteegens Lied "Gott ist gegenwärtig" für Otto beispielhaft zum Ausdruck kommt. Andere Aspekte der Erfahrung Gottes sind nach Otto die majestas: Macht, Gewalt, Übermacht, Majestät; das Energische: Lebendigkeit, Leidenschaft, Kraft, Wille, Bewegung, Erregtheit, Tätigkeit; das mirum ("sich wundern"): "Das Fremde und Befremdende, das aus dem Bereiche des Gewohnten, Verstandenen und Vertrauten und darum ‚Heimlichen‘ überhaupt Herausfallende und zu ihm im Gegensatz sich Setzende und darum das Gemüt mit starrem Staunen Erfüllende." Nach achtjähriger Tätigkeit als Privatdozent wurde Otto 1906 zum außerordentlichen Professor in Göttingen ernannt. 1915 hatte er die Professur für systematische Theologie in Breslau und 1917 denselben Lehrstuhl in Marburg als Nachfolger Wilhelm Herrmanns inne. Von 1913 bis zum Ende des ersten Weltkrieges war er Abgeordneter im preußischen Landtag und im Jahre 1919 Mitglied der preußischen Landesversammlung. In der Weimarer Zeit versuchte er den evangelischen Gottesdienst gemäß seiner theologischen Ideen zu erneuern. In dieser Zeit begründete und leitete er auch den "Religiösen Menschheitsbund", einen Bund, dessen Ziel die Förderung von Recht und Gerechtigkeit zwischen Völkern durch religiöse Mittel war. Zwei Reisen, 1911-1912 nach Nordafrika und Asien und 1927-1928 nach Asien und in den nahen Osten, beeinflußten Ottos Interesse für Weltreligionen, insbesondere für den Hinduismus. Otto hielt 1924 die Haskell-Vorlesungen an Oberlin College in den USA und 1926 die Olaus-Petri-Vorlesungen an der Universität Upsala. Wichtig ist auch die noch existierende "Religionskundliche Sammlung" in Marburg, die Otto zu dieser Zeit gründete. Bei einem Sturz im Oktober 1936 aus einem Turm in Staufenberg bei Marburg wurde Otto schwer verletzt. Er starb an den Folgen einer Lungenentzündung am 7. März 1937 in Marburg. 
UWE WOLFF


Werke: Die Anschauung vom Hl. Geiste bei Luther, 1898; Leben und Wirken Jesu nach historisch-kritischer Auffassung, 1902; Naturalistische und religiöse Weltansicht, (1904) 19293; Kantisch-Fries'sche Religionsphilosophie, (1909) 19212; Das Heilige, (1917) 195829-30; Aufsätze, das Numinose betreffend (1923) 19294 (5. u. 6.. Aufl. unter dem Titel: Das Gefühl des Überweltlichen, 1932); Chorgebete (mit Gustav Mensching), 1925; Zur Erneuerung und Ausgestaltung des Gottesdienstes, 1925; Westöstliche Mystik, (1926) 19292; Die Gnadenreligion Indiens und das Christentum, 1930; Sünde und Urschuld, 1932; Reich Gottes und Menschensohn, (1934) 19543. Mitherausgeber von: Aus der Welt der Religion; Liturgische Blätter; Logos. Lit.: Theodor Siegfried, Grundfragen der Theologie bei R.O., 1931; - Heinrich Frick, Gedächtnisrede für R.O., 1937; – Ernst Benz, R.O. in seiner Bedeutung für die Erforschung der Kirchengeschichte, in: ZKG 56, 1937, 375-398; – W. Haubold, Die Bedeutung der Religionsgeschichte für die Theologie R.O.s, (Diss. Marburg) 1940; - Karl-Heinrich Bieritz, Die Hochkirchliche Bewegung in Deutschland und die Gestaltung des Meßgottesdienstes, (Diss. Jena) 1962; – Wolfgang Philipp, Der Protestantismus im 19. und 20. Jh., (Sammlung Dieterich 273) 1965 (Nachdr. 1988); Richard Schaeffler, Religionsphilosophie, (Handbuch Philosophie) 1983; – Karl Dienst, Die Religionsphilosophie R.O.s in ihrer Bedeutung für Peter Brunners Gottesdienstverständnis, in: Luther 60, 1989, Heft 2, 78-86; – Ders:, Konfessionalität und Katholizität in evangelischer Agendenarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Siebzig Jahre Hochkirchliche Bewegung (1918-1988), Eine Heilige Kirche, N.F. Nr. 3, Bochum 1989, 238-264; – EKL II, 1784 f.; – RGG3 IV, 1749 f.; – R.O.-Archiv: UB Marburg.