Ein wenig hört sich meine Formel in der Überschrift wie aus einem der vielen Artikel und Essays an, die gerade zum Gendern im Deutschunterricht der Sek II behandelt werden – aber da liegen Sie leider falsch: Es beschreibt in Kurzform die Community, die sich am letzten Mittwoch für knapp 48h nach Hohegeiß aufgemacht hat, um dort im Haus Berlin gemeinsam zu musizieren, also auf Musikfreizeit zu gehen, wie ich noch vor ca. 14 Tagen gedacht habe.

Aber das war mein erster Irrtum, und zugleich bin ich mitten in das größte Fettnäpfchen gesprungen, das die Musiker in diesem Zusammenhang aufgestellt haben: Musikfreizeit ist ganz falsch, es handelt sich auch nicht um eine Nur-Chor- oder Nur-Orchesterfreizeit, sondern um die musikintensiven Arbeitstage der verschiedenen Ensembles des Gymnasium Andreanum, Hildesheim. Wer (wie ein wenig früher auch ich, wie ich gestehen muss) glaubt, es handele sich hierbei um einen bloßen Euphemismus, sei eines Besseren belehrt: Es wird wirklich von morgens bis abends geprobt, zu den Mahlzeiten kommen die Chor- und Orchestermitglieder mit hechelnder Zunge und hängenden Mägen auf den letzten Drücker, und auf den Zimmern und Toiletten (vermutlich auch in der Dusche, falls jemand für solche Nichtigkeiten Zeit hat) wird einfach gleich weiter musiziert. Und wenn man wirklich einen Moment lang glaubt, jetzt sei alles still (also z.B. morgens um 8.00), dann erklingen plötzlich auf dem einfachen Schimmelklavier in der Turnhalle atemberaubende Arpeggien in unglaublicher Geschwindigkeit und Präzision, weil natürlich jeder halbwegs vernünftige Abiturient die probenfreie Zeit nutzen muss, um sich auf die demnächst anstehende Aufnahmeprüfung für das Musikstudium vorzubereiten …


Ich hatte ja ursprünglich gedacht (oder gehofft?), dass meine Begleitaufgabe als Nichtmusikerin dort vor allem in einem wohlwollenden Lächeln nach allen Seiten und im Übrigen in kleineren Transportaufträgen oder Ähnlichem bestehen würde, ich also den Anblick des Brockens draußen und vieler übender junger Menschen drinnen genießen könne, aber irgendwie lag ich damit falsch. Gleich nach der Ankunft wurde fortissimo geschuftet und aus den vorhandenen Räumen und Stühlen, den mitgebrachten Instrumenten und Notenständern sowie durch Verschieben des bereits erwähnten Schimmels ein Chorprobenraum, eine Art Orchestergraben, verschiedene Probebühnen (z.B. hinter der Tischtennisplatte) und einige Lokalitäten für die Registerproben (?) geschaffen. Dann hat Mirjam Strecker noch rasch einen ausgefeilten und engen Zeitplan für die nächsten 48 h an die Pinwand in der Eingangshalle gehängt (das blieb dann auch der einzige Aushang …), die Türen der verschiedenen Probeetablissements wurden energisch geschlossen – und mit der Ruhe war´s vorbei.



Ich machte mich - leicht vereinsamt - in meine gemütliche Gästewohnung auf, die ich mit einigen sehr freundlichen Menschen aus dem 8. Jahrgang in friedlicher Koexistenz in den nächsten beiden Tagen teilen sollte, und bezog in Ruhe mein Zimmer. Dabei redete ich mir ein, dass Gesines freundliche Einladung vom Wochenende, ich könne doch im Alt mitsingen, entweder nur eine nette Geste gewesen sei oder der Hinweis, dass ich abends am romantischen Lagefeuer ein wenig zur Gitarre würde mitbrummen können.

NEIN! Man hatte auch einen Stuhl für mich im Alt hingestellt, Noten hatten bereits in der Woche zuvor in meinem Lehrerzimmerfach gelegen (hatte ich auch glücklicherweise tatsächlich eingepackt), und nach dem Mittagessen gab es dann kein Pardon mehr: Was sicher tatsächlich als freundliche Einladung gedacht war, würde jedes Wesen in dieser Umgebung, das auch nur von einem minimalen Über-Ich mitbestimmt wird, als klare Aufforderung zum Mitsingen verstehen: Also los. Ich habe mich dann tatsächlich eingelassen – mehr stümperhaft als ambitioniert, dabei aber zugleich auch einen ganz neuen Blick auf Menschen bekommen, die ich sonst in einem anderen Kontext erlebe: Hoch konzentrierte Sänger im Bass, die ganz selbstverständlich als „Männer“ von ihrer Chorleiterin bezeichnet werden und auch entsprechende Verantwortung für ihr Tun übernehmen, dabei aber zugleich mit ihrem ganzen Körper den Bewegungen der Musik folgen oder aber die perfekte Singhaltung einnehmen und diese exakt beibehalten (vermutlich aus Intonationsgründen - klingt gut, oder?). Wo bleibt der sonst so coole A. oder der meist anderweitig beschäftigte (und daher manchmal etwas - auch körperlich - abwesende) X. aus meinem Kurs? Und auch die Mädchen: Aufmerksam und engagiert singen sie ihre Partien, kennen die Eigenheiten ihrer Chorleiterin und akzeptieren sie, indem sie die für mich manchmal schwer zu entschlüsselnden Kurzaufträge schnell und präzise umsetzen. Für all uns Sänger*innen ein großes Glück ist der Mann am Piano, Julius Martinek, den nichts aus der Ruhe bringt, der zugleich eine nie in Frage gestellte Autorität genießt und wunderbar spielt: Und auch zum 72. Mal begleitet er unsere Versuche ab Takt 42 ungerührt und mit stoischer Gelassenheit.

 


Und ganz ehrlich – irgendwann bin ich dann auch etwas abgeschlafft, kann diese kleinen Noten und Wörter darunter nicht mehr so genau lesen, finde es vollkommen überflüssig, dass hier jemand plötzlich ein französisches Lied ausgegraben hat, und amüsiere mich etwas, wenn die Jungen und Mädchen, halt! - Frauen und Männer, die um ein Vielfaches jünger sind als ich, sich wehmütig Adeles When we were young auf der Zunge zergehen lassen …


Dann freue ich mich doch, bei wirklich schönem Wetter noch ein wenig rauszugehen oder am Orchestergraben (also: Tagesraum 1 und 2) den klaren Anweisungen von Mirjam Strecker und den Klängen der Filmmusik von 007 durch die Tür zu lauschen - das die das spielen können, die sitzen doch sonst bei mir im Unterricht und übersetzen (etwas lustlos, möchte es mir manchmal sogar scheinen) Cicero & Co. Auf jeden Fall hätte mich hier keiner zwangsverpflichten können: Ich habe nur die Grundausbildung der höheren Tochter meiner Generation in Klavier, Blockflöte und Langlaufski, eine Teilnahme am Orchester ist also leider tabu …


Aber es gibt dann dennoch ein Drumherum bei all dem Proben: gemeinsame Mahlzeiten mit meinen Kolleginnen und Kollegen, kurze Gespräche mit Schüler*innen oder Begegnungen beim morgendlichen Joggen, der supernette Timothy Hope, der nicht nur die Bläserriege freundlich-bestimmt anführt, sondern sogar am Ende mein Auto an drei fetten Bussen vorbei sicher aus der Parklücke manövriert, oder Lorenz Heimbrecht, der am Spätnachmittag nach einem bereits vollständig absolvierten Tagespensum in Hildesheim bei uns eintrifft, Stimmproben (vermutlich in den Registerräumen?) durchführt oder den Bass im Chor unterstützt.

Kurios und der Erwähnung wirklich wert ist auch die Unterbringung der beiden Leiterinnen: Gesine Frank residiert in einem Zimmer mit Glasfront zum Flur im Erdgeschoss, hat aber die Möglichkeit, wenn sie denn wirklich etwas Privatsphäre möchte, sich hinter eine weiße Stellwand zurückzuziehen, die in Ermangelung eines Paravants vor ihrem Bett aufgestellt ist. Dagegen wird ausgerechnet in den beiden Tagen unserer Anwesenheit die Heizung im Zimmer von Mirjam Strecker erneuert, die daher ihren Powernap in der Mittagspause im Ruheraum der Sauna verbringt, um die Handwerker bei ihrer verantwortungsvollen Aufgabe nicht zu stören.


Einer der Höhepunkte der Fahrt sind sicher die kleinen Konzerte, die Chor und Orchester zum Abschluss geben, die Verleihung des weißen bzw. roten Herzens für die Musik an die Abiturienten, die den Ensembles oft über fast die gesamte Schulzeit die Treue gehalten haben, und natürlich der bunte Abend, den die Abiturienten für den Rest der Mannschaft veranstalten: Die Zuschauer bilden vier Teams, als Hosts sind die Musiklehrer*innen geladen und unter der souveränen und nonchalanten Moderation von Matthis Braun (heute extra im kleinen Schwarzen), werden knifflige Aufgaben gestellt (wie nennt man die Enkelin meiner Schwester?) oder kleine Verkleidungsaktionen gestartet (beliebtestes Accessoire an diesem Abend: der Minirock für den Mann und die Chlorbrille für jedermann).


Also - ich habe in meiner Gästewohnung genug Schlaf bekommen und bin zwei Tage in ein anderes Leben eingetaucht – vielleicht gucke ich demnächst mal in der Seniorenmannschaft der Michaeliskantorei vorbei, jetzt nach Corona können die ja vielleicht im Alt wieder neue Leute gebrauchen …

Annette Neubaur

 

Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.