Artikel der HAZ vom 24.06.25
Die soziale Stadtführung der Vinzenzpforte macht jetzt Schule. 
Seit zweieinhalb Jahren zeigen die sozialen Stadtführungen, wie wohnungslose Menschen die Stadt erleben. Jetzt ist das Angebot für Schulen geöffnet worden.

Stadtführer Udo und Claude Englebert führen Schülerinnen und Schüler vorbei an sozialen Hot Spots der Stadt. Foto: Kilian Schwartz

Aus der Fußgängerzone brüllt ein Mann über die Kaiserstraße hinüber. Weil es windig ist, versteht man nur Bruchstücke, offenbar führt der Mann ein hitziges Wortduell mit sich selbst. Langsam schlendert er auf das Gebäude der Ambulanten Wohnungslosenhilfe zu. Claude Englebert, Sozialarbeiter bei der Hildesheimer Vinzenzpforte, und sein Kollege Udo (er möchte seinen Nachnamen nicht in der Zeitung stehen haben) stehen ein paar Meter entfernt am Eingang zur Bernwardstraße und warten kurz, bis sich der obdachlose Mann beruhigt hat. Dann erzählen sie der Traube an jungen Menschen, die sich um die beiden versammelt hat, weiter: von den knapp 500 Wohnungslosen in Hildesheim, von denen 150 obdachlos sind; von den Gründen, warum jemand „Platte macht“, also auf der Straße landet; und schließlich von dem Leben im Allgemeinen, das einfach verdammt kompliziert ist und Menschen manchmal unverhofft den Boden unter den Füßen wegreißt. Der brüllende Mann ist inzwischen weitergezogen. Knapp zwanzig junge Menschen werden die Geschichten hinter Menschen wie ihm in den kommenden Stunden vielleicht mit anderen Augen betrachten.

Schülerinnen und Schüler der achten Klasse des Andreanum nehmen heute im Rahmen des Wahlplichtkurses Gesellschaft an der sozialen Stadtführung teil, ein Angebot des Sozialcafés Vinzenzpforte der Vinzentinerinnen. Die Touren, die zwischen Innenstadt, Hauptbahnhof und Hannoversche Straße an verschiedenen sozialen Einrichtungen entlangführen, sollen Teilnehmenden neue Perspektiven auf die Stadt eröffnen. Das Besondere: Neben Projektleiter Englebert werden die Stadtführungen von Menschen begleitet, die selbst Erfahrung mit prekären Lebenssituationen haben.

Um auch junge Menschen über das Leben auf der Straße aufzuklären, geht das Team neuerdings gezielt in Schulklassen. Udo, einer der ehrenamtlichen Stadtführer und seit drei Jahren Stammgast in der Vinzenzpforte, ist von dem Angebot überzeugt. „Ich bin komplett Feuer und Flamme für das Projekt“, sagt der einstige Tischler, den vor Jahren eine fristlose Wohnungskündigung auf die Straße katapultierte. Die Stadtführungen seien eine gute Möglichkeit, neue Blickwinkel und Lebensentwürfe kennenzulernen sowie Vorurteile und Ressentiments abzubauen, so Udo.

Nach der Einführung gegenüber der Ambulanten Wohnungslosenhilfe macht die Gruppe Halt in der Nähe des Tagestreffs Lobby, zieht weiter über den Angoulêmeplatz und hält am Hauptbahnhof. Der biete viel Infrastruktur und sei deshalb ein beliebter Platz für obdachlose Menschen, erzählt Englebert. Doch dass es hier baustellenbedingt seit sieben Jahren keine öffentliche Toilette mehr gebe, sei eine große Einschränkung. Er erzählt von einer Frau, die mit dem Rollator nicht schnell genug zu einem Klo gekommen sei, ihre Notdurft deshalb hinter einem Bushäuschen verrichten musste – und dafür prompt eine polizeiliche Verwarnung kassierte. „Für Obdachlose gibt’s halt keine einfache Lösung“, macht Englebert deutlich.

Was auch beim letzten Stopp der Stadtführung auf dem Marienfriedhof deutlich wird. Denn die Notschlafstelle am Langen Garten genieße nicht ganz zu Unrecht einen zweifelhaften Ruf. Anders als oft dargestellt handele es sich hierbei eben nicht um eine Obdachlosenunterkunft, erklärt Udo. Hier gebe es weder Sozialarbeiter noch getrennte Schlafplätze, lediglich ein Security-Dienst verhindere, dass es zu Schlägereien oder Schlimmeren komme. „Es ist eher ein Konzept für den Katastrophenfall. Deshalb möchten viele Obdachlose hier nicht unterkommen und übernachten lieber auf der Straße“, sagt Englebert.

Nach knapp zwei Stunden endet die Stadtführung. Ob der Trip den Schülerinnen und Schülern nachhaltig etwas mit auf den Weg gegeben habe? „Viele der Orte kannte ich nicht“, sagt die 14-jährige Marla. Durch das Angebot werde sie vieles in der Stadt jetzt bewusster wahrnehmen. Auch Katharina, ebenfalls 14, hat neue Perspektiven gefunden. „Ich werde jetzt mehr als zuvor über diese Dinge nachdenken.“ Fynn Noah findet es hingegen interessant, dass sich Menschen aus ihrer prekären Situation wieder aufgerafft haben und anderen Menschen in vergleichbaren Situationen helfen. „Menschen auf der Straße, die Hilfe brauchen, werde ich jetzt häufiger mal Geld geben“, sagt der 14-Jährige.

Den Kontakt zu den sozialen Stadtführern hergestellt hat indes Silke Hainke, Deutsch- und Religionslehrerin am Andreanum. „Ich bin Stammgast hier“, sagt sie und lacht. Schon mehrmals habe sie mit Schülerinnen und Schülern am Angebot teilgenommen, unter anderem im Rahmen des Diakonischen Praktikums der Schule. „Es ist wichtig, dass die Jugendlichen nicht nur die Schokoladenseiten, sondern auch die Brennpunkte der Stadt kennenlernen.“