Vor 75 Jahren begannen die Nürnberger Prozesse gegen die Spitzen des NS-Regimes. Eine zentrale Rolle spielte ein Hoheneggelser. Er musste sich selbst später wegen schwerster Verbrechen verantworten.
Von Tarek Abu Ajamieh
Hermann Göring bebt vor Zorn. Und zugleich hat der Mann, den noch vor nicht allzu langer Zeit selbst Millionen fürchteten, Angst. Fassungslos starrt der einstige Reichsmarschall und Luftwaffen-Chef auf den 38-jährigen Mann, der da im Zeugenstand steht und mit ruhiger Stimme die Fragen des Anklagevertreters John Amen beantwortet. Wie viele Menschen die SS-Einsatzgruppe D unter seiner Führung getötet habe? „90 000.“ Ob das Frauen und Kinder einschloss? „Jawohl.“ Nur mühsam kann Göring an sich halten, bis es in einer Verhandlungspause aus ihm herausplatzt: „Was glaubt das Schwein damit zu gewinnen?“, brüllt der einstige Top-Nazi. Das „Schwein“ ist Otto Ohlendorf.
EIN LEICHTES LÄCHELN FÜR DEN FOTOGRAFEN: OTTO OHLENDORF (VORN) IM JAHR 1948 WÄHREND DES EINSATZGRUPPEN-PROZESSES IN NÜRNBERG. HINTER IHM SEIN MITANGEKLAGTER HEINZ JOST.
Geboren in Hoheneggelsen, Abitur am Andreanum in Hildesheim, im Krieg zum Leiter einer der vier SS-Einsatzgruppen an der Ostfront aufgestiegen. Und in den Nürnberger Prozessen gegen die von den Alliierten als „Hauptkriegsverbrecher“ definierten Spitzenvertreter von NSDAP und Wehrmacht, die vor 75 Jahren begannen, Kronzeuge der Anklage. Im Winter 1945/46 geht es noch nicht um Otto Ohlendorfs persönliche Schuld. Hier geht es um die Verbrechen der NS-Regierung an sich, konkret im Krieg gegen die Sowjetunion. Vier Einsatzgruppen schickte die SS der Wehrmacht hinterher. Ihre Aufgabe: Kommunistische Funktionäre sowie Juden zu töten. In Massen. Emotions- wie schonungslos schildert Ohlendorf in Nürnberg den Auftrag und sein Vorgehen. Aussagen, die später zum Prozess gegen ihn selbst führen werden. Die aber zunächst vor allem dazu beitragen, viele Nazi-Größen an den Galgen zu bringen. Früh bei NSDAP, SS und SA
Wie konnte der ebenso intelligente wie gebildete Sohn eines begüterten Bauern aus der Hildesheimer Börde in diese Rolle gelangen? Ohlendorf selbst hat in seinem eigenen Prozess viel Energie dafür aufgewandt, sich als einen Nationalsozialisten, der eigentlich gegen die Nazis war, zu charakterisieren, ebenso als Angehörigen einer politisch orientierungslosen Generation.
Geboren 1907, prägen der Erste Weltkrieg, die Armut danach und die Unruhen rund um den Sturz der Monarchie einen Großteil der Kindheit und Jugend Ohlendorfs. Mit 18 Jahren tritt er in die NSDAP ein, 1925, ein sehr frühes Mitglied also. Auch der SS schließt er sich an, 1926 zudem der SA. Er wird vor Gericht später sagen, ihn habe vor allem die Arbeits- und Sozialpolitik der Partei angezogen, ebenso der Gedanke, dass der Staat nur ein Instrument sei, um die Lage des Volkes zu verbessern. Den Gedanken der „Volksgemeinschaft“ betont er oft, zugleich beschreibt er sich nach einem Aufenthalt im Italien Mussolinis entschieden als „Antifaschisten“. Dem Antisemitismus der Nazis habe er nichts abgewinnen können, sagt Ohlendorf später in Nürnberg. Und erklärt doch im gleichen Prozess, der von Juden getragene Bolschewismus sei eine Gefahr für ganz Europa, die man habe vernichten müssen.
Von eigener Aussage eingeholt Und diese Vernichtung, den Massenmord, den räumt Ohlendorf ganz unumwunden ein. Mit fester Stimme und ohne erkennbare Reue schildert er die Tötungen in der Ukraine, auf der Krim, im Kaukasus in den Jahren 1941 und 1942. Präzise beantwortet er die Fragen von Anklägern und Richtern. Auf Aufnahmen aus dem Prozess klingt seine Stimme seltsam mechanisch, er spricht fast ohne Betonungen. Nur das plattdeutsch-spitze „St“ in seinem klaren Hochdeutsch gibt einen Hinweis auf den Menschen Otto Ohlendorf und seine Herkunft. Seine Aussagen im großen Nürnberger Prozess holen ihn ein. 1947 und 1948 sitzt er selbst auf der Anklagebank eines US-Militärgerichts in Nürnberg, als Hauptangeklagter im sogenannten Einsatzgruppen-Prozess gegen insgesamt 24 SS-Kommandeure. 14 von ihnen werden am Ende zum Tode verurteilt, vier dieser Urteile tatsächlich vollstreckt.
Doch zuvor versuchen Anklage und Gericht zu ergründen, warum die Männer taten, was sie taten. Dass sie es taten, war zumindest im Fall Ohlendorf durch seine eigene Aussage unstrittig. Der Hoheneggelser geht selbstbewusst in diesen Prozess. Fotos zeigen ihn ironisch in die Kamera lächelnd. Seine protokollierten Aussagen lesen sich wie die eines Mannes, der sich mit seinen Anklägern moralisch und intellektuell auf Augenhöhe sieht. Der sich seiner Verantwortung aber nicht stellt und sich in Widersprüche verwickelt, die er nicht auflösen kann. Und der sich trotz 90.000 ziviler Todesopfer noch auf die Fahnen schreibt, besonders menschlich agiert zu haben. Und zwar sowohl im Sinne der Opfer als auch im Sinne der Soldaten, die die Zivilisten erschießen sollten. Er habe angeordnet, Gefangene nicht per Genickschuss zu töten, sondern durch Erschießungskommandos. Warum, das erklärt er in Nürnberg ebenfalls in dieser seltsam gleichförmigen, fast roboterhaften Sprechweise: „Bei Einzelhinrichtungen ließen sich durch seelische Erregung Misshandlungen nicht vermeiden, da die Opfer zu früh von ihrer Hinrichtung erfuhren und dadurch nervenmäßig einer längeren Belastung nicht standhielten.“ Kurzum, es sei darum gegangen, „es den unglücklichen Opfern so leicht wie möglich zu machen“. Aber auch seine eigenen Männer habe er damit schützen wollen, so Ohlendorf weiter: „Es sollte erreicht werden, dass die Führer und Männer auf militärische Weise, durch Befehl, die Hinrichtungen vollziehen konnten und keinen eigenen Entschluss zu fassen brauchten.“ Entlastet vom „Führerbefehl“?
Der Einzelne, der schoss, und sei es auf ein Kind, war für Ohlendorf also jeder Verantwortung enthoben. Er handelte ja auf Befehl. Und genauso argumentiert Ohlendorf in Nürnberg auch für sich selbst. Er habe nur auf Befehl von oben gehandelt, sogar von ganz oben. Otto Ohlendorfs Aussagen im Einsatzgruppenprozess sind wesentliche Stützen der These vom „Führerbefehl“ – also der Theorie, das Hitler persönlich die Massenmorde in der Sowjetunion und den Holocaust angeordnet habe. Daraus leitet Ohlendorf auch für sich selbst Entlastung ab: „Ich unterwarf mein moralisches Gewissen der Tatsache, dass ich ein Soldat und damit ein Rad an relativ niedriger Stelle der Maschinerie war ...“ Es stehe einem Soldaten nicht zu, einen Befehl des Staatsoberhauptes infrage zu stellen.
Doch im gleichen Prozess sagt Ohlendorf auch, er habe die Massentötungen als „einzige Lösungsmöglichkeit“ zum Schutz des deutschen Volkes vor dem „jüdischen Bolschewismus“ gesehen. Um dann wieder zu erklären, er habe den Führerbefehl „unabhängig von seiner Notwendigkeit“ nicht für richtig gehalten, weil „solche Maßnahmen moralische und sittliche Konsequenzen haben, die einen unverhältnismäßig großen Schaden bedeuten“. Göring behält Recht Und so philosophiert und relativiert Ohlendorf sich durch den Prozess. Wird von Beobachtern als intelligent, gebildet, sogar sympathisch beschrieben und kann doch das Bild des gefühllosen Technokraten, jenes Typus, dessen kühle, praktische Herangehensweise für den Massenmord Hitlers und seiner Schergen unabdingbar war, nicht wegdiskutieren.Die Anklage wendet denn jene Eigenschaften auch gegen den Hoheneggelser und seine Mitangeklagten: „Sie sind gebildete Menschen, die die schwere und düstere Bedeutung des Programms, auf das Sie sich einließen, voll und ganz verstanden. Sie wurden für die schrecklichen Aufgaben ausgewählt, weil man Ihre Erbarmungslosigkeit für ausreichend hielt.“
Otto Ohlendorf kann sich nicht herausreden. Das Gericht verurteilt ihn zum Tod durch den Strang. Und er ist einer der vier Männer, an denen das Urteil auch tatsächlich vollstreckt wird: am 7. Juni 1951 in Landsberg, dort, wo einst der junge Hitler im Gefängnis saß. Ohlendorf ist kurz vor seinem Tod noch fotografiert wurden. Er steht zwischen seinen Henkern, den Blick starr in die Kamera gerichtet, leicht resigniert wirkend. Als Seelsorger steht ihm in den letzten Momenten Georg Haverbeck zur Seite. Jener Mann, dessen Frau Ursula noch heute regelmäßig wegen Verleugnung des Holocaust vor Gericht steht.
Hermann Göring, inzwischen fünf Jahre tot, behält Recht: „Er wird sowieso hängen!“, hatte er nach Ohlendorfs Aussage im ersten Nürnberger Prozess geflucht.
Text: Archiv Hildesheimer Allgemeine Zeitung [HAZ ], 20.11.2020