Sie dirigiert die Großen: Joana Mallwitz kehrt nach vielen Jahren für einen Nachmittag in ihre Heimat nach Hildesheim zurück und lässt das Publikum beim HAZ-Filmfestival ganz nah an sich heran.
 
 

Was für eine Karriere! Von Hildesheim aus hat Joana Mallwitz die Klassikszene erobert. Eine Weltklasse-Dirigentin, die mit den Großen wie Igor Levit oder Rolando Villazon auf dem Podium steht. Zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren ist sie am Sonntagnachmittag zurück in ihrer Heimatstadt. Nicht im Konzertsaal, sondern beim HAZ-Filmfestival im fast voll besetzten Thega 6. Sie ist hier, um das neue Filmporträt „Momentum“ vorzustellen, das Günter Atteln über dreijähriger Arbeit über sie gedreht hat.

Man lernt darin eine Frau mit einem unfassbar vollen Terminkalender kennen. Im Thega nimmt sie sich beim Publikumsgespräch trotzdem ganz viel Zeit, beantwortet Fragen über Fragen.

Es muss am Hildesheim-Bonus liegen. 1986 wird Mallwitz hier geboren, geht aufs Andreanum und bekommt an der Musikschule ihren ersten Instrumentalunterricht. Es ist eine ganz normale Kindheit gewesen, erzählt Reinhard Kurth-Mallwitz, ihr Vater, ein paar Stunden vorher, während sie sich im Rathaus ins Goldene Buch der Stadt einträgt. Mehr als zwei Stunden am Tag Klavier üben sei in der Mietwohnung sowieso nicht drin gewesen, und danach: raus in den Garten.

Ihr außergewöhnliches Talent kommt dennoch früh zum Vorschein. Mit 13 Jahren wird Joana Mallwitz am Institut für musikalische Frühförderung der Hochschule in Hannover aufgenommen, mit 17 macht sie schon ihr Abi, absolviert ihr Studium in Hannover und verabschiedet sich dann in die weite Welt, um zwischen Boston und Göteborg Karriere zu machen.

Mit 27 Jahren war sie in Erfurt schon die jüngste Generalmusikdirektorin Europas, danach fünf Jahre lang an der Staatsoper Nürnberg, anschließend wird sie Leiterin des Konzerthausorchesters Berlin. Dazwischen Gast-Engagements in Amsterdam, München oder bei den Salzburger Festspielen und obendrein die Geburt eines Sohnes. Ein bisschen viel auf einmal – so wirkt es jedenfalls im Film. Zumal ihr Mann, Tenor Simon Bode, ebenfalls gut ausgelastet ist.

„Man braucht ein gutes Team“, sagt die heute 37-Jährige in einer Szene auf die Frage, wie sich Elternschaft und Karriere vereinbaren lassen. Was sie damit meint: Als Mallwitz und Bode eine Mozart-Oper in Salzburg vorbereiten, die sie dirigiert und in der er singt, mieten sie dort für mehrere Wochen zwei Appartements an – eins für sich und eins für ihre Eltern, die sich abwechselnd um den Kleinen kümmern.

Man erfährt im Film viel über die Künstlerin, sieht ihre Anspannung, ihre Power, ihre Freude beim Dirigieren. „Sie atmen ihr Orchestern sozusagen ein und aus“, lautet die treffende Beschreibung eines Zuschauers im anschließenden Publikumsgespräch. Live im Kinosaal lässt Mallwitz die Menschen fast noch näher an sich heran als in den Filmbildern. „Können Sie den Beginn eines Konzertes in Worte fassen, was fühlen sie dabei?“, will jemand wissen.

Und die Musikerin erzählt: Dass es ihr vorher den ganzen Tag ziemlich schlecht geht, beinahe, als werde sie krank. Dass der Körper komplett herunterfährt, um sich für den Abend zu sammeln. Dass sie sich unmittelbar vor dem Konzert nur auf den allerersten Takt des Werkes konzentriert. Dass die Energie des Publikums sie fast umwirft, wenn sie aufs Podium tritt. Und dass alle Anspannung vorüber ist, sobald die ersten Noten erklingen: „Dieser Moment ist die totale Erlösung.“ Und dass es nach dem Konzert Stunden dauert, um das Adrenalin wieder herunterzufahren, „bis man vielleicht um vier Uhr einschlafen kann“.

Wenn es nach dem Publikum ginge, könnte Mallwitz wohl noch lange weiter erzählen. Manchmal sind es ganz einfache Fragen („Was macht ihr Bruder eigentlich, ich war seine Klassenlehrerin“), manchmal nur Bekundungen des Staunens („Sie haben mich total vom Stuhl gerissen“), manchmal kommen musikalische Insider-Fragen („Ist der Prozess wichtiger oder das Ergebnis?“) und mehrfach geht es ans Eingemachte: „Gibt es am Tag eine Sekunde, wo sie nicht über Musik nachdenken?“ „In meinem Kopf ist tatsächlich die meiste Zeit Musik“, sagt Mallwitz. Außer, wenn sie mit ihrem Kind zusammen ist.

Im Klassikgeschäft ist sie ein Star, eine von immer noch ganz wenigen Frauen in Chefinnen-Positionen. Eine Ausnahmeerscheinung. Doch von Allüren sieht man, jedenfalls an diesem Nachmittag, keine Spur: „Es ist etwas ungewöhnlich für mich, so einen Applaus zu bekommen, obwohl ich gar keine Arbeit tue.“

Text und Fotos (2): Archiv der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung vom 01.7.2024