Wie würden Sie entscheiden? Unter diesem Titel konnten Fernsehzuschauer vor einigen Jahrzehnten im Fernsehen echte Rechtsfälle selbst nach entscheiden. Die gleiche spannende Aufgabe wartete in der vergangenen Woche auf Schüler:innen der Klasse 10E1. Im Rahmen der Themenwoche Gerechtigkeit zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes des Niedersächsischen Justizministeriums hatte das Sozialgericht Hildesheim die Klasse des Andreanums eingeladen, anhand eines simulierten Falles selbst in die Rolle eines Richters/einer Richterin zu schlüpfen.
Vor Beginn der Verhandlung begrüßte Dr. Sebastian Westermeyer, der Direktor des Sozialgerichts, die Schülergruppe und stellte zunächst die Aufgaben der Justiz als dritte Ebene der Gewaltenteilung unserer Demokratie, die im Grundgesetz und den weiteren Gesetzen definiert ist, in einem Vortrag dar. Er verdeutlichte, dass das Sozialgericht auf die Fälle der Sozialgesetzgebung spezialisiert ist, etwa im Unterschied zum Amts- oder Landgericht, an denen Fälle im Bereich des Bürgerlichen Gesetzbuches oder Strafrechts verhandelt werden. Hier sind es in der Regel Bürger:innen, die staatlichen Behörden oder Versicherungen verklagen und sich gegen Bescheide wehren, bei denen es um nicht zuerkannte, soziale Leistungen geht. Das im Sozialbereich nicht minder interessante Fälle warten, verdeutlichte der von Mitarbeitenden des Gerichts gespielte Fall, der so tatsächlich andernorts passiert war und alle drei Instanzen bis zum Bundessozialgericht in Kassel beschäftigte.
Worum ging es konkret in dem gespielten Fall: Ein 16-jähriger Schüler hatte auf dem Nachhauseweg 16 von seinem Hildesheimer Gymnasium nach Sarstedt die S-Bahn benutzt. Während der Fahrt hatte der Junge mit einem Vierkantschlüssel eine Zwischentür geöffnet, um auf dem Dach des Triebwagens zu „surfen“. Dabei ereilte ihn ein Stromschlag, der zu schweren Verbrennungen führte mit langjährigen Klinikaufenthalten und Hauttransplantationen. Der Fall spielte vier Jahre nach dem Unfall. Aufgrund der erheblichen Mitverantwortung des Jungen weigerte sich die Versicherung den Fall als Arbeits- bzw. Wegeunfall anzuerkennen, der verbesserte Rehabilitationsmaßnahmen abdecken würde. Dagegen klagte die Mutter des Jungen. Deren Anwältin argumentierte etwa, dass die von der Versicherung betonte „Unterbrechung des Schulweges“ schon deshalb gegeben sei, weil der Schule das S-Bahnsurfen mehrerer Schüler bekannt gewesen sei, man aber nichts dagegen unternommen hatte.
Dieser Fall wurde nun von einer Kammer unter Vorsitz der „echten“ Richterin Frau Dr. Schindehütte verhandelt, die durch Schülerinnen Jennifer Bloß und Rebecca Schmidt gebildet wurde. Und dann wurde es Ernst: Alle standen zu Beginn der Verhandlungsphasen auf und folgten dem Ablauf der Verhandlung. Nach Verhandlungsende zog sich die Kammer zur Beratung zurück, während die übrigen Mitglieder der Klasse per Stimmzettel ihr Votum abgaben.
Es folgte sodann die Urteilsbegründung der Kammer. Die Klage der Mutter wurde abgewiesen, dass „S-Bahnsurfen“ habe zu einer „Unterbrechung“ des Schulwegs geführt , zumal dem Jugendlichen die Gefahr des Surfens bewusst gewesen sein muss, da er über eine entsprechende Reife verfüge. Die Mehrheit der 10 E 1 schloss sich diesem Votum an (15 Stimmen), sechs Schüler:innen kamen jedoch zu dem Schluss dem Antrag der Mutter Recht zu geben.
Dass sie mit dieser Entscheidung gar nicht so falsch lagen, verdeutlichte der anschließende Austausch mit den Richterinnen und Richtern des Sozialgerichts: in letzter Instanz ist nämlich das Bundessozialgericht dem Antrag der Mutter ebenfalls gefolgt. Nach drei Stunden endete ein spannender Fall und die Diskussion um diesen Fall und andere Urteile des Gerichts einen spannenden Ausflug in die Welt der Rechtsprechung. Dem Team des Sozialgerichts gebührt Dank für diese tolle Aktion im Rahmen des 75. Geburtstages unserer Verfassung.
J.Surborg